Samos Nicole Grogg März 2016

Ein etwas ausführlicherer Bericht von Nicole zu ihrem Einsatz auf der griechischen Insel Samos

Was für immer in Erinnerung bleiben wird, sind die persönlichen Begegnungen und Momente, die einem nahe gehen – von denen gab es genügend.

Ein eindrückliches Erlebnis war bereits der Anflug auf Samos. Anders als während der Touristenzeit flogen wir die Insel über die Türkei an und somit genau über die Meeresenge, welche so viele Flüchtlinge dieses Jahr bereits überquert hatten und weiterhin überqueren werden. Ich hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Soviele Menschen waren im Meer unter mir bereits ertrunken. Ich hielt Ausschau nach den NATO- und Frontexschiffen. Das einzige was ich aber sah, waren die vielen orange-leuchtenden Punkte an der Küste.

Gleich am Flughafen traf ich meine Freundin Eleni, welche auf Samos lebt sowie ein Mitglied der Samos Divers. Er kam gerade zurück aus zwei Schulungen vom Roten Kreuz in Athen. Er berichtete uns, dass ein Tag sein Leben für immer verändert hat: der Tag, an dem er sechs Flüchtlingsmädchen tot aus dem Meer ziehen musste. Sein Leben werde nie wieder so sein wie vor diesem Tag.

Besonders gespannt war ich auf den neuen Hotspot (Registrierungszentrum für Flüchtlinge). Laut Medien sollte dieser auf Samos bereits fertiggestellt und in Betrieb sein. Am zweiten Tag wurde ich jedoch vom Gegenteil überzeugt. Da das Flüchtlingscamp ausserhalb von Vathi (Samos Stadt) nicht genügend Kapazität aufweist, wird seit dem letzten Herbst ein Teil der Flüchtlinge am Hafen in UNHCR Hütten untergebracht. Dieses Provisorium am Hafen soll nun wieder aufgelöst werden. Alle Flüchtlinge vom Hafen müssen umziehen. Die Versorgungscontainer (z.B. der für die Kleiderausgaben) wurden bereits in das offizielle Flüchtlingscamp gebracht. Einzig ein paar UNHCR Hütten stehen noch am Hafen.

Das Camp am Hügel von Vathi ist ein altes Gefängnis. Konstruiert für 200 bis 400 Insassen. Bereits seit Jahren wird es als Flüchtlingscamp genutzt. Als ich vor Ort war, zählten die Helfer ca. 1000 Flüchtlinge, welche darin untergebracht waren. Um das ganze Gelände verläuft ein hoher Zaun mit scharfem Stacheldraht. Das Camp ist in mehreren Terrassen erbaut. Auf jeder Terrasse stehen Container. Infolge des Platzmangels stehen dazwischen noch Zelte. Den Tag durch dürfen die Flüchtlinge nach draussen. Spätestens ab 23.00 Uhr wird das Camp über Nacht geschlossen. Flüchtlinge, welche in der Nacht, bis auf die Knochen durchnässt, ankommen, erhalten keinen Zutritt zum Camp und somit auch keine trockenen Kleider. Diesen desaströsen Zustand können zum Teil freiwillige Helfer mindern, die in der Nacht einspringen und die Leute so gut es geht versorgen. Die ganze Essensversorgung der Flüchtlinge im Camp, wie auch am Hafen, übernehmen ebenfalls freiwillige Helfer. Es sind verschiedene Organisationen aus diversen Ländern und auch viele Einheimische, die das Kochen und das Verteilen der Esswaren übernehmen.

Was mich auf meiner Reise am meisten berührt hat, waren definitiv die persönlichen Gespräche mit den Flüchtlingen. Eines Tages trafen wir Irfan 29 und Subair 21 oberhalb des Flüchtlingscamps. Wie viele andere genossen sie die Sonne an diesem Tag. Als wir sie freundlich grüssten, sagten sie gleich folgende Worte: „Pakistan, Pakistan“! Und wir kamen ins Gespräch. Blöderweise konnten die beiden nur ein paar Wörter Englisch. Mit Händen und Füssen versuchten wir den beiden zu erklären, dass sie als Pakistani kein Recht auf Asyl haben und somit nicht weiter nach Zentraleuropa reisen können. Wir sagten den beiden, sie sollen auf Samos bleiben. Sie würden hier zu essen bekommen und ein Dach über dem Kopf haben. Als Irfan verstand, was wir ihm sagen wollten, sah ich in seinen Augen, wie seine Hoffnung zerplatzte. Ihm wurde wohl klar, dass seine weite Reise vielleicht umsonst war. Die beiden zeigten uns Narben, die sie sich auf dem weiten Weg zugezogen hatten. Da wir ohne Übersetzer nicht weiter kamen, fragte Eleni drei Frauen, ob sie Englisch sprechen würden. Wir hatten Glück. Die drei Frauen aus Afghanistan sprachen Englisch und ebenfalls Urdu. Wir erklärten ihnen allen, dass sie besser hier bleiben sollten, da die Grenze zurzeit geschlossen und die Umstände auf dem Festland bereits mehr als prekär seien. Sie meinten, Allah werde ihnen helfen – sie hatten wohl keine Ahnung, was noch alles auf sie zukommen wird.

Ein kleines Mädchen fiel mir besonders auf. Es sprach sehr gut Englisch. Sein Name ist Roja, das Mädchen ist 12 Jahre alt und kommt ebenfalls aus Afghanistan. Da wir den Hund (Floh) von Eleni dabei hatten, kamen wir rasch ins Gespräch. Am Anfang fürchteten sich alle vor Floh. Doch besonders Roja kam nicht darum, sie zu streicheln und am Schluss gingen sie sogar zusammen spazieren.

Wir fragten die kleine Gruppe, was sie dringend benötigen. Irfan erzählte uns, dass ihm die Schlepper in der Türkei mit einer Waffe gedroht und ihm alles weggenommen haben. Seit seiner Ankunft konnte er seiner Mutter nicht Bescheid geben, dass er die Überfahrt überlebt habe. Die Frauen baten uns, ihnen Sonnenhüte zu besorgen. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen.

Wir besorgten für Irfan ein günstiges Telefon. Zudem packten wir viele meiner mitgebrachten Sachen ein (Unterwäsche, Socken, Seifenblasen, Fingerpuppen, Schals und gestrickte Kinderkappen) und fuhren am nächsten Tag wieder nach Vathi. Als wir ankamen, lief gerade eine Verteilaktion für Männerkleidung. Dies, so merkte ich später, war unser grosses Glück. Wir verteilten den Kindern die mitgebrachten Spielsachen und wurden dann gleich von vielen Frauen mit Kleinkindern auf dem Arm überrannt. Ich war so perplex, dass ich Eleni erst spät zu Hilfe kam. Die Frauen drängten sie regelrecht ins Auto. Aber das ist ja verständlich, wenn einem mal jemand frische Sachen schenkt.

Ich konnte noch eine kurze Zeit mit Roja verbringen. Wir machten ein Foto zusammen, denn sie mag Fotos. Als wir gehen mussten, umarmte sie mich und sagte „I Love you“.  Erst vor einigen Tagen sah ich sie auf einem Foto auf Facebook. Anscheinend hat sie eine Fähre nach Athen genommen. Sie steckt nun wohl irgendwo auf dem Festland fest – ich hoffe, es geht ihr gut.

Einem Menschen in die Augen schauen, seine Hoffnung zerstören, die Enttäuschung sehen und verstehen - ich werde die kurze Woche in Samos nie vergessen! Es ist unglaublich, was in Griechenland geschieht. Ich habe auf Samos nur einen kleinen Einblick erhalten und bereits der wird mich für immer prägen. Wir konnten im Flüchtlingsheim einigen Menschen frische Sachen und den Kindern Spielzeuge verteilen. Die Freude und Dankbarkeit waren riesig. Es war ein Tropfen auf den heissen Stein - doch mit vielen einzelnen Tropfen helfen wir diesen Menschen. Ich bitte euch alle, auf irgendeine Art zu helfen, sei es mit Kleider-, Geldspende oder mit Zeit.

Ich bereue den Entscheid, persönlich vor Ort zu helfen, keine Minute und dies, obwohl ich voraus doch grosse Zweifel an meiner eigenen Stärke hatte. Ich kann nur sagen, es war bisher die wertvollste Erfahrung meines Lebens.